„Ich nehmen das Leben bewusster wahr, ich schätze andere Dinge als noch vor vier Jahren – und ich bin dankbar für die vielen glücklichen Umstände, die mir wiederfahren sind." Silke Rathgeb ist ein positiver Mensch. Das strahlt sie aus und das ist nicht nur ihren Worten zu entnehmen, auch die Art wie sie es sagt unterstreicht das. Dieser Optimismus ist nicht selbstverständlich. Das wird einem klar, unterhält man sich ausführlicher mit ihr. Silke Rathgeb, die mit ihrer Familie in Abtsgmünd lebt, hat seit 2019 ME/CFS Myalgische Enzephalomyelitis/Chronische Fatigue-Syndrom. Da die Krankheit viele verschiedene Symptome hat und sie deshalb nur schwer erkannt wird, hat sie letztes Jahr im Herbst mit Wilfried Lang aus Heidenheim die ME/CFS Selbsthilfe Ostwürttemberg gegründet. „Man ist völlig entkräftet und immer müde, man kann nicht sitzen und nicht stehen, das Herz rast, man hat Tinnitus, Schwindelattacken und Konzentrationsstörungen. Zudem Kopf-, Muskel- und Nervenschmerzen. Das Schlimmste aber ist, dass die meisten Ärzte einem nicht sagen können, was man hat."
Auslöser ist eine Entzündung wie das Pfeiffersche-Drüsenfieber, Herpes oder eine Lungenentzündung. Diese Entzündung greift auf sämtliche Körpersysteme über; also auf das Gehirn, das Nerven-, Immun, und Hormonsystem, sowie auf die Muskeln und den Zellstoffwechsel. Ein Jahr hat es gedauert, bis bei Silke Rathgeb die Diagnose feststand.
„Damit hatte ich noch Glück. Viele ertragen jahrelang Unbeschreibliches und wissen nicht, was mit ihnen los ist. Da steht dann der Verdacht auf einen Gehirntumor, auf MS, auf ALS, also eine unheilbare Erkrankung des Nervensystems, in deren Verlauf es zu Muskellähmungen kommt, oder auf eine Depression im Raum. Wenn es das alles nicht ist, bleiben für viele Ärzte nur noch psychische Ursachen." Dass die Krankheit meistens schwer erkannt wird, liegt daran, dass das Krankheitsbild so vielschichtig ist und sie deshalb an Universitäten nicht gelehrt und nicht erforscht wird. ME/CFS ist die am meisten vernachlässigte Erkrankung des 21. Jahrhunderts, so die Meinung vieler Mediziner, die sich damit beschäftigen. In der Öffentlichkeit findet sie so gut wie nicht statt und das, obwohl sie seit 1969 bei der WHO, der Weltgesundheitsorganisation, als neuro-immunologische Krankheit gelistet ist. „Auch ich war bei vielen Ärzten und schließlich war ich in einer Reha für psychosomatische Erkrankungen. Dort riet mir ein Arzt, der erkannte, dass es das nicht sein kann, mich an das Zentrum für seltene Erkrankungen in Würzburg zu wenden. Dort erhielt ich 2020 die Diagnose ME/CFS." Deutschlandweit gibt es rund 300.000 Menschen die daran erkrankt sind, Experten gehen von einer weitaus höheren Zahl unerkannter Erkrankungen aus.
Ausgerechnet Corona scheint in Sachen ME/CFS einen Lichtblick zu sein, paradoxer Weise. Schließlich ist eine Infektion mit Covid 19 gerade für Menschen mit geschwächtem Allgemeinzustand gefährlich. „Das ist schon richtig", räumt Silke Rathgeb ein. „Was uns ein gutes Stück Hoffnung gibt, ist die Behandlung von Long Covid. Es gibt ein Medikament, das als Herzmedikament zugelassen ist, und das bei Long-Covid-Patienten die Symptome erfolgreich bekämpft, beziehungsweise eindämmt. Wir setzen uns dafür ein, dass dieses Medikament auch auf die Wirkung bei ME/CFS erforscht und zugelassen wird." Studien zum Medikament im Bezug zu Long Covid laufen derzeit. Diese Studie auszuweiten ist wünschenswert und wäre sinnvoll. Zehn bis 20 Prozent der an Long-Covid Erkrankten leiden zudem an ME/CFS, in Deutschland sind das rund 100.000 Patienten, so die Einschätzung von Prof. Dr. med. Carmen Scheibenbogen, Leiterin der Immundefekt-Ambulanz an der Charité Berlin. Damit wird die Krankheit endlich sichtbarer. Ein Anliegen, für das sich auch Silke Rathgeb und Wilfried Lang einsetzen.
„Gemeinsam wollen wir über die Selbsthilfegruppe in der Region ein Netzwerk schaffen, aufklären, mit Ärzten zusammenarbeiten und unsere Erfahrungen zur Verfügung stellen." Die Abtsgmünderin ist für die Öffentlichkeitsarbeit der Selbsthilfegruppe zuständig, was bedeutet, sie muss ihre Kräfte gut einteilen. „Mein Akku ist ständig so gut wie leer. Auch schlafen hilft nicht. Manchmal bin ich so erschöpft, dass ich mich nicht einmal im Bett auf die andere Seite drehen kann", erzählt sie und relativiert im nächsten Satz. „Aber ich habe gelernt, damit umzugehen. Ich weiß, was ich mir zumuten kann und fokussiere mich deshalb. Wenn ich beispielsweise am Mittwoch ein Interview mit der åla oder einen Fototermin habe, dann mache ich die Tage davor nichts." Das Informationsbedürfnis zu ME/CFS ist groß, das wissen Silke Rathgeb und Wilfried Lang aus eigener Erfahrung. Über die Homepage der ME/CFS Selbsthilfe Ostwürttemberg www.medotcfs.wordpress.com gibt es neben Erfahrungsberichte und Informationen zur Krankheit auch Kontakte und Tipps zum Leben mit ME/CFS. Veranstaltungen können derzeit nicht stattfinden, sobald diese wieder möglich sind, finden sich die Termine ebenfalls auf der Homepage.