Marina Mattburger und die „Blechöhrchen”

Hören war lange Zeit für Marina Mattburger buchstäblich eine einseitige Angelegenheit. Stereo war ein bloßer Begriff und weit weg von einem Hörerlebnis. „Ich bin seit meiner Geburt auf dem rechten Ohr taub. Meine Eltern waren mit mir bei sämtlichen Ärzten aber vor über 50 Jahren waren die medizinischen Möglichkeiten daran etwas zu ändern sehr viel eingeschränkter als heute. Aber ich konnte das gut kompensieren. Als ich vor ein paar Jahren in meinem linken intakten Ohr einen Hörsturz bekam, schränkte sich mein Hör-
vermögen drastisch ein", erzählt sie. Das Hörvermögen kam wieder zurück, geraume Zeit später, Anfang 2018 schlug jedoch der nächste Hörsturz zu. Wieder war das linke Ohr betroffen, diesmal stärker als zuvor. „Der Arzt schlug mir vor, das das rechte Ohr, das von Geburt an taub ist, zu behandeln um das andere zu entlasten." Unter bestimmten Voraussetzungen kommt in solchen Fällen ein Cochlea-Implantat (CI) in Frage, das das Hörvermögen wieder herstellt. Dieses Implantat besteht aus einem externen und einem implantierten Teil. Beide Teile arbeiten so zusammen, dass Geräusche direkt in die Cochlea, die Hörschnecke im Innenohr, geleitet und vom Gehirn als solche wahrgenommen werden können. Das erste funktionierende Cochlea-Implantat wurden 1957 eingesetzt, es dauerte allerdings noch über 30 Jahre, bis die Implantate technisch so ausgereift waren und der Sprachprozessor hinter dem Ohr getragen werden konnte. Seit den 2000er Jahren geht die Entwicklung rasant voran.

„Ich bekam am 31. Oktober 2018 in Tübingen mein Cochlea-Implantat eingesetzt. Noch während der OP, unmittelbar nachdem die Sonde in der Hörschnecke saß, überprüften die Ärzte die Übermittlung von Signalen und stellten fest, die Nerven reagieren, alles funktioniert." Funktionalität bedeutet bei einem Cochlea-Implantat allerdings nicht automatisch, dass derjenige sofort hören kann, wie es die kennen, die keine Hörschädigung haben. Bis Marina Mattburger überhaupt Geräusche über das rechte Ohr wahrnehmen konnte, vergingen Wochen; ein CI ist nichts für Ungeduldige. „Das muss man lernen. Viele Menschen meinen es ist wie bei einem Hörgerät. Ans Ohr hängen und dann funktioniert das schon mit dem Hören. Aber man muss seinem Gehirn quasi beibringen, dass das, was dort ankommt eine Bedeutung hat. Ich habe deshalb im Vorfeld der OP einen Termin bei einer Logopädin vereinbart." Im Laufe der therapeutischen Sitzungen stand Marina Mattburger schnell vor der Frage: Welche Fragen und Erfahrungen haben andere CI-Träger in der Region? Gibt es eine Selbsthilfegruppe und wenn nicht, wie gründe ich eine? Ende April trafen sich in der Praxis für Logopädie Dr. Gabriela Barthel in Aalen zum ersten Mal CI-Träger aus der Region. Sich in Gaststätten zu treffen scheitert an den Nebengeräuschen, dann tat sich die Möglichkeit auf, das Haus Kastanie der Familienbildungsstätte in Aalen zu nutzen. Coronabedingt fand erst im Juli wieder ein Treffen statt, den Konatkt zueinander hielten sie dennoch.

 

„Wir haben eine WhatsApp-Gruppe, ich bin in einem Forum aktiv und die nächsten persönlichen Treffen bis Ende des Jahres stehen ebenfalls fest. Wir sind eine Gruppe von rund 15 Personen, alle mit einer Hörschädigung; manche sind mit Hörgeräten versorgt, manche tragen wie ich ein CI auf nur einer Seite, manche beidseitig." Die Mitglieder der Gruppe, die sich die „Blechöhrchen" nennen, tauschen sich nicht nur aus, sondern setzen sich auch ein. „Wer ein CI trägt, für den ist eine MRT-Untersuchung oft mit einem gewissen Risiko verbunden. Beim MRT entstehenden Magnetfelder, die sind so stark, dass sie die Sendespule, die hinter dem Schädelknochen implantiert ist, lösen, verrutschen oder entmagnetisieren können. Auf dieses Risiko möchten wir in der Öffentlichkeit aufmerksam machen. Was, wenn man einen Unfall hat, infolge dessen man den äußerlich getragene Teil des CI´s verloren hat, und bewusstlos ist? Niemand kann sehen, dass man ein CI trägt", gibt sie zu bedenken. Sie trägt zwar einen CI Ausweis bei sich, einer gewissen Restunsicherheit kann sie sich allerdings nicht erwahren. Selbst ist die Frau, beschloss sie, ergriff die Initiative und entwarf einen Button zum Anstecken. Im Durchmesser etwa wie eine Espressotasse, zeigt der Anstecker das Symbol für ein CI und den Hinweis, „Kein MRT!". Inzwischen gibt es zwar auch Implantate, die auf eine MRT-Untersuchung unproblematisch reagieren, es gibt aber immer noch genügend, an denen das Magnetfeld mit einer Kraft von mehreren Kilogramm zieht und dadurch Schmerzen und Verletzungen verursachen kann, oft wird dann eine erneute OP nötig.

Mit ihrem CI hat sich für Marina Mattburger ein beachtliches Stück neue Lebensqualität eröffnet. „Ich höre Stereo, das habe ich über 50 Jahre nicht gekannt. Außerdem kann ich mein Handy direkt an mein CI ankoppeln und auch mein Hörgerät, das ich im linken Ohr trage, lässt sich mit meinem CI koppeln." Noch hört sie nicht so wie sie es sich wünscht, das braucht Zeit und viel Übung. „Ich muss mein rechtes Ohr intensiver trainieren. Ich habe dafür ein Programm auf dem Computer, gehe zur Logopädie und baue es, wann immer es geht, in meinen Alltag ein. Dass ich so weit gekommen bin, das verdanke ich in großem Maße meiner Familie, die mich immer unterstützt, und auch dann aufgefangen hat, wenn mich die Motivation zu verlassen drohte." Wertvolle Tipps und Rückhalt findet sie zudem bei den Blechöhrchen. „Nicht immer läuft alles so, wie man sich das vorstellt. Dann tut es gut, sich mit Gleichgesinnten auszutauschen. Wenn es im Beruf hoch her geht oder ich gemütlich mit Freunden zusammensitze, schleichen sich schnell die alten Gewohnheiten ein. Dann konzentriere ich mich auf das, was ich mit links höre. Das bin ich gewohnt, außerdem möchte ich nicht immer nachfragen. Die Motivation dennoch dranzubleiben, die gibt mir meine Familie und die Blechöhrchen." Wenn ihr alles zu viel wird, hat sie ein einfaches Mittel. Abschalten! „Dann mach ich mein CI und mein Hörgerät aus. Mehr Ruhe kann man nicht haben", scherzt sie und als Hörendem bleibt einem nur ein Gedanke: So kann man das auch sehen.