Über 40?

Lernen ist keine Frage des Alters

„Rückblickend habe ich mir immer berufliche Herausforderungen gesucht. Vielleicht weil ich jemand bin, der regelmäßig etwas entdeckt, das mich interessiert. Deshalb kann ich auch nicht sagen, ob ich in drei Jahren noch das arbeite, was ich heute mache." Heike Bruch ist 54 Jahre alt und sie ist die Verkörperung dessen, was generell als „lebenslanges Lernen" bezeichnet wird. In direkter Zusammenarbeit mit der Geschäftsführung des Bereiches Hydro bei Voith in Heidenheim, ist sie für das strategische Marketing für Afrika verantwortlich. „Ich analysiere und bewerte die Kundenstruktur, die Märkte und die Wettbewerbssituation rund um das Thema Wasserkraft in Afrika." Der Kontinent mit seinen 54 Ländern gilt als großer Wachstumsmarkt, dementsprechend hoch sind die Anforderungen an die vor rund eineinhalb Jahren gegründete Abteilung.

Heike Bruch hat im November letztes Jahr die Market Intelligence für Africa übernommen, sieben Jahre zuvor stieg sie bei dem Heidenheimer Familienunternehmen ein, das zu den Top 3

 

der Region zählt. „Ich habe mich mit 47 Jahren als Praktikantin bei Voith beworben", erzählt sie mit einem gewissen Unterton, wohl wissend, dass die Nachfrage zu ihrem beruflichen Werdegang nicht ausbleibt. „Ich habe kein Abitur gemacht, wollte Floristin werden, habe dann aber auf Drängen meines Vaters Industriekauffrau gelernt und mich mit 21 Jahren gefragt, warum haben andere in meinem Alter schon viel mehr erreicht." 1985 entschloss sie sich daraufhin in Absprache mit ihrem damaligen Arbeitgeber Hartmann zu ihrem ersten berufsbegleitenden Wirtschaftsstudium in Ulm. 1990 bot sich ihr mit der Wiedervereinigung die Chance für den Verbandsstoff-Hersteller aus Heidenheim nach Berlin zu gehen, wo sie sich im Krankenhausbereich spezialisierte. 1993 kam ihre Tochter zur Welt, sie blieb zwei Jahre zu Hause und stieg dann zunächst in Teilzeit, aber ihrer Qualifikation entsprechend, wieder ein. „Mein damaliger Chef erkannte wohl meinen Wissensdurst und so kam ich in die Produktentwicklung für OP Produkte und eignete mir im Laufe der Jahre jede Menge medizinisches Wissen an." 2008 zeichnete sich eine erneute Veränderung ab. „Ich war 44, meine Tochter

 

ging als Austauschschülerin nach Kanada und ich dachte mir, ich will mehr!" Noch im selben Jahr schrieb sie sich für ein Studium der Wirtschaftswissenschaften ein, ihre Stelle bei Hartmann kündigte sie. „Da saß ich nun in der Vorlesung gemeinsam mit anderen, die gerade ihr Abitur bestanden haben. Ich wusste meine Familie hinter mir, freute mich aufs Lernen, spürte aber auch die Herausforderung, weil mir beispielsweise die Basics in Mathematik fehlten." Mit viel Begeisterung, Disziplin und dem notwendigen Selbstbewusstsein, das sie unter anderem aus ihrer Berufserfahrung schöpfte, schloss sie schnell auf. Einfach war es dennoch nicht. „Das war oft ein schwerer Gang, aber ich habe Achtung erfahren und ich habe auch gelernt jungen Menschen Achtung entgegen zu bringen. Ich musste mir mehr als einmal eingestehen, da gibt es Menschen, die wissen mehr als ich." Geerdet habe sie diese Erkenntnis ebenso, wie sie für sie Ansporn war.

Ihren beruflichen Wunsch mit dem erworbenen Bachelor in der Tasche im Controlling eines weltweit operierenden Unternehmens zu arbeiten, sah sie bei Voith bestens erfüllt und so bewarb sie sich 2011 als Praktikantin. „Ich war die älteste Praktikantin, die sich jemals bei Voith beworben hat aber ich bekam die Chance und nutzte sie." 2012 stieg sie im Konzernbereich Paper ein, dann wechselte sie zu Hydro. Heike Bruch ist jemand, die immer im Fluss ist, die wissen möchte, was sich hinter der nächsten Tür verbirgt und die sich nicht scheut, diese Türe zu öffnen und sie zu durchschreiten. Sie ist keine Getriebene, sie ist im besten

 Sinne wissensdurstig, ebenso wie sie andere anerkennt und bereit ist, von jedem zu lernen. Kein Wunder, dass der Bachelor nur Ausgangsbasis für den Master (MBA) sein konnte. „Ich entschied mich, meinen Master of Business Administration (MBA) berufsbegleitend bei der GSO, der Graduate School Ostwürttemberg zu machen und das war eine sehr gute Entscheidung; unter anderem weil ich kurze Wege zu den Vorlesungen nach Aalen und Heidenheim hatte." Dass sie die erneute selbstgewählte Herausforderung meistern würde, daran zweifelte niemand. Dennoch kam sie an ihre Grenzen. „Die gestellten Anforderungen sind hoch, der Arbeitsalltag läuft parallel und man möchte und muss allem gerecht werden. Aber wir hatten eine sehr gute Betreuung und tolle Lerngruppe, zu denen ich immer noch Kontakt habe." Heute kennt sie sich in den Feldern Maschinenbau, Technologie und Elektrizität genauso aus wie mit den Gesetzen des Marktes und den Mechanismen und Instrumenten des Marketings. Sie weiß ihre Stärken zum richtigen Zeitpunkt einzusetzen, bewahrt die Ruhe, weil sie weiß, wenn es darauf ankommt, kann sie ihr Wissen abrufen und anwenden. Letztendlich hat sie immer für sich ihr Wissen erweitert, sie hat gelernt,weil sie es wissen wollte, nicht weil eine bessere Position oder ein höheres Gehalt lockte und weil sie es spannend fand. „Ich würde sogar einen Kredit aufnehmen, wenn ich wüsste, nur so kann ich meinen Wissensdurst stillen", meint sie scherzhaft, lässt aber keinen Zweifel daran, dass sie es ernst meint. Die 54-jährige ist ständig in Bewegung, geistig wie körperlich. Sie ist Ausdauersportlerin, läuft, fährt Fahrrad und ist begeisterte Bergwanderin. Ihren ursprünglichen Berufswunsch Floristin hat sie in die Freizeit gerettet. Die Begeisterung fürs Lernen gibt sie als Business und Bachelorbetreuerin an junge Menschen weiter und sie gehört zu denjenigen, die Menschen immer etwas Positives abgewinnen kann. Die Frage, ob sie jetzt alles erreicht hat, was sie beruflich erreichen wollte und will, erübrigt sich. „Ich frage mich manchmal, wie es wohl wäre, noch zu promovieren und ertappe mich dabei, wie ich schon eine Forschungsfrage im Kopf formuliere – aber dann natürlich nicht mehr der Karriere wegen, sondern einfach nur so, weil es mich interessiert!"