Ampeln, Leuchtreklame, Klang- und Duftteppiche in Einkaufscentern, Menschen, die sich unterhalten, Handys, die klingeln, Hunde, die bellen. Händeschütteln, Umarmungen, winken, zurufen. Die meisten nehmen nur einen Bruchteil der Sinnesreize wahr, die uns umgeben. Die meisten Gehirne blenden Nebensächliches aus. Wessen Gehirn dazu nicht in der Lage ist, ist täglich einer unvorstellbaren Flut an Reizen ausgeliefert.
»Stell Dich nicht so an! Das bekommt man ganz oft zu hören, wenn man sagt, dass man diese Reizüberflutung nicht erträgt«, erzählt Nadine Dinc aus Aalen. »Das liegt daran, dass man es niemandem ansieht, was er oder sie wahrnimmt. Es handelt sich um nicht sichtbare Beeinträchtigungen«, bringt sie es auf den Punkt. Seit über sieben Jahren beschäftigt sie sich damit; seit ihr Sohn auf der Welt ist und sie wissen, dass er sensorische Reize kaum ausblenden und filtern kann. Im Verein »gemeinsam zusammen e.V.« setzt sie sich dafür ein, diese nicht sichtbaren Beeinträchtigungen sichtbar zu machen. Über 50 Krankheiten oder Beeinträchtigungen, darunter ADHS, das Autismus-Spektrum, Depression, Epilepsie, Migräne, ME/CFS, Krebs, Herzerkrankungen und viele mehr, zählen dazu. Unterstützung erhält Nadine Dinc unter anderem von Petra Pachner, der Behindertenbeauftragten des Ostalbkreis. »Inklusion und Barrierefreiheit muss auch Menschen mit nicht sichtbaren Beeinträchtigungen berücksichtigen. Wir haben ein Treffen aller Inklusionsräte im Ostalbkreis initiiert. Wir regen an, Ruhezelte auf städtischen Veranstaltungen einzurichten und wir haben am 20. Oktober, dem Tag der nicht sichtbaren Beeinträchtigungen, einen Stillen Marsch durch Aalen organisiert. Das sind erste Schritte, denen weitere folgen werden«, versichert Petra Pachner. So viele Menschen wie möglich erreichen, das Thema in Gremien und Ausschüsse bringen, Missverständnisse und Vorurteile durch Information ausräumen und gleichzeitig Alltagsbedingungen verbessern. Das Team
Dinc-Pachner arbeitet daran. Ein erster Türöffner für mehr Präsenz im Alltag ist die »Stille Stunde« in Einkaufszentren, im Handel, im Gesundheits- und Dienstleistungssektor. »Seit November gibt es im E-Center Miller in Aalen eine Stille Stunde, die Zahnarztpraxis von Einsiedel macht mit, ebenso wie Lit. Die Stadtbuchhandlung, das Modehaus Funk und der ›ZeitRaum‹. Ich hoffe, da kommen noch viele dazu. Wir sind in Gesprächen mit Friseuren, Vereinen und vielen mehr«, so Nadine Dinc.
Ebenfalls im Fokus des Vereins steht das Fachpersonal in Kindergärten und Schulen. Mediziner gehen davon aus, dass eines von zehn Kinder eine sehr niedrige Reiztoleranz hat. Ihre Reaktion darauf ist oft auffälliges Verhalten, wie unkontrollierte Handlungen gegen Dinge und Personen, Schreien oder Selbstisolation. »Das können Anzeichen für eine nicht sichtbare Beeinträchtigung sein. Strafe ist dann das ganz und gar falsche Mittel. Wissen die pädagogischen Fachkräfte Bescheid können sie die herausfordernden Situationen erkennen und individuelle Unterstützung anfordern. Gleiches gilt im Arbeitsalltag für betroffene Erwachsene.« Der Kopierer neben dem Schreibtisch, ein Radio, das im Hintergrund vor sich hin spielt, das offene Fenster zur Straße, die Rufumleitung der Kollegen, das Großraumbüro. Das alles kann zu Reizüberflutung und damit zu Arbeitsausfall durch Krankheitstage führen. Für Arbeitnehmer und Arbeitgeber beiderseits alles andere als wünschenswert. Ganz ohne Reize wird es wohl nie gehen. Aber: Das Bewusstsein, diese gegebenenfalls zu reduzieren und denjenigen Verständnis entgegenzubringen, die alldem täglich ausgesetzt sind, das kann jeder und am besten ab sofort!